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Gewalt

Artikel von Hans-Wolff Graf (München 1993/2014)

Einigen wir uns am besten vorab darauf, Gewalt als „übermäßigen, gezielten Einsatz von Mitteln zur Erreichung eines Zieleszu definieren, wobei dieses „Ziel“ auch durchaus darin bestehen kann, etwas zu verhindern, was ohne den Einsatz von Gewalt vermutetermaßen geschähe.

Einigt man sich auf diese Definition, dann wird sehr schnell klar, daß Gewalt beileibe nicht nur in körperlicher Form auftritt.Unterscheiden wir also demnach unterschiedliche Arten von Gewalt:

a) Physische Gewalt: Hierbei geht es um den Einsatz von Körperkräften, mit Hilfe derer ein schwächerer zu etwas gezwungen werden soll. Reichen hierzu die eigenen Körperkräfte nicht aus, so bedient man sich gewisser
„Verstärkungskräfte“. Diese können Stich-, Hieb-, Stoß-, Schlag- oder Schußwaffen sein. Aber auch lautes Gebrüll, martialische Kleidung, ein andersartiges, furchterregendes Äußeres (Masken, „Kriegsbemalung“, ein entsprechender Haarschnitt oder Tätowierungen) sind geneigt, Menschen einzuschüchtern und Gewalt zu implizieren.

b) Seelische Gewalt: Die Bedrohung mit Liebesentzug, Nichtbeachtung und schon das Andeuten, einen Menschen verlassen, ihn also alleine zu lassen, wirken erheblich – mitunter sogar stärker als körperliche Gewaltanwendung – und sind geeignet, Menschen gefügig zu machen, ihnen also gewaltsam den eigenen Willen aufzuzwingen.

c) Geistige Machtmittel: Den Anderen als unfähig, dumm oder weniger/nicht kompetent hinzustellen, ihn mit Karriereeinbußen, vielleicht dem Verlust des Arbeitsplatzes oder mit anderen wirtschaftlichen Nachteilen zu bedrohen, sind derartige Formen von Gewaltanwendungen. Zu diesen Mitteln gehört jedoch auch das Androhen von Bestrafung (selbst wenn diese nur imaginär im Raum stehen bleibt). Die Gefahr des „Sitzenbleibens“ stellt für Kinder zumeist eine reale Gefahr dar. Gleiches gilt für „Prüfungsängste“ – auch Erwachsenen ja nur zu gut bekannt.

Gewalt entsteht also immer aus eigenen Frustrationen und Ängsten, weil man sich in seinen Zielen blockiert sieht, und dient dazu, sich eigener Ängste dadurch zu entledigen, daß man diese auf seine Umwelt transportiert.

Sieht sich ein Angst-beladener Mensch nun nicht in der Lage, mit dieser Angst – so fiktiv sie auch sein mag – fertigzuwerden und erkennt er außerdem keine Chance, sich gegen ihn bedrohende Menschen oder den Umstand, der ihm Angst einflößt, zu wehren, so wird sich seine Frustration völlig natürlicherweise dort entladen, wo er mit weniger Gegenwehr rechnen kann und er sein Ziel – sich selbst von der Angst zu befreien – leichter erreicht.

Die Bildung von Gruppen Gleichgesinnter – harmlose Form: Clubs und Vereine, gefährliche Form: Banden und kriminelle Vereinigungen – entspricht einerseits dem Wunsch, bestehende Verhältnisse zu ändern, andererseits jedoch der (meist unterschwelligen) Vermutung oder Gewißheit, es „alleine“ nicht schaffen zu können. Dazu kommt der ganz natürliche Drang nach Anerkennung von dritter Seite und das Bedürfnis nach Gemeinschaftlichkeit.

Unterscheiden wir K- (= körperliche), G- (= geistige) und S- (= seelische) Kräfte/Fähigkeiten, so gilt:

Einen Mangel an K versuchen wir (als höchst anpassungsfähige Lebewesen) durch den Einsatz von G- und S-Kräften zu kompensieren, einen Mangel an G durch S- und K-Fähigkeiten, usw. Dies gilt auch für den Fall, daß der Mangel nur vermeintlich ist, also real gar nicht existiert.

Dazu einige Beispiele:

  1. Im Haushalt einer Familie leben ein Junge und ein Mädchen. Der ältere Bub nimmt vielleicht – den großen Vater vor Augen – eher den geistig-dominierenden Platz (G) in der Familienhierarchie ein, während das hübsche Mädchen sich mehr auf die Rolle der Prinzessin (K) kapriziert. Nicht verwunderlich, wenn es sich dann auch später als geistig geringwertiger empfindet, mehr mit Sanftheit und körperlichen Vorzügen seine Ziele zu erreichen versucht und unter seinem vermeintlichen G-Mangel leidet, darüber aber lieber nicht spricht.
  2. Der von seinem Vater geohrfeigte Sohn sieht keine Chance, sich gegen seinen Vater zur Wehr zu setzen. Seine Angst, seine Frustration und sein Haß werden sich mithin gegen Schwächere richten – jüngere Geschwister, Nachbarskinder oder Haustiere. Stehen derartige „Rache-Ersätze“ nicht zur Verfügung, wird sich seine negative Gefühlsladung auf andere Objekte richten. Für viele stellt dann der Sport ein „entladendes“ Element dar. Fehlen hierzu die Möglichkeiten – zum Beispiel ein Mangel an Sportstätten –, zerstört dieser Junge etwa die Spiegel an parkenden Autos oder er zündelt. Vielleicht besprüht er auch Wände oder er stellt irgendetwas an, was „verboten“ ist. Er bestraft damit also den – nicht anwesenden – Vater, weil er gegen ihn – so er anwesend wäre – nicht ankäme.

Dieser „aggressiven“ (lat. aggredi = auf etwas zugehen, angreifen) steht die „ingressive“ Form der Bewältigung eines derartigen Konfliktes gegenüber. Das ingressiv agierende Opfer (z.B. einer Anwendung von Gewalt) verkriecht sich quasi in sich selbst. Es traut sich nicht, nach außen zu gehen, aggressiv zu handeln. Es vergräbt sich in seinen Schmerz und seine Trauer. Dies wirkt sich dann entweder körperlich aus – Schlafstörungen, Bettnässen, Sprach- und Verdauungsstörungen, Magengeschwüre oder andere Symptome – oder seelisch – in den verschiedenen Formen von Verhaltensstörungen, Neurosen und Psychosen, Manien oder Phobien bis hin zu autistischen Mustern oder letztlich in Selbstmord. Konzentrationsschwächen und schlechte Leistungen – in der Schule oder am Arbeitsplatz – sind noch relativ harmlose Erscheinungsformen. Die Flucht in Ersatzhandlungen
Alkohol-, Drogen- und Medikamentensucht – sind Phänomene, die wir statistisch erfassen und als „Krankheiten“ behandeln. Aber auch Kaufsucht, oftmals völlige Überschuldung, Promiskuität und Extrem-Sex, ein übertriebenes Sicherheitsbedürfnis, Entscheidungsängste und Geiz, Verfolgungsängste, Anorexie, Hypochondrie u.v.m. sind ingressive und aggressive Fluchtverhalten als Ausdruck mangelnden Selbstwertgefühls. Unsinnigerweise beschäftigen wir uns x-mal mehr damit, Symptome zu kurieren, statt den tatsächlichen Ursachen auf den Grund zu gehen.

Man kann es getrost als Akt eines „kollektiven Schuldbewußtseins der Gesellschaft“ bezeichnen, wenn wir die von derartigen Süchten betroffenen Menschen unseres „Mitgefühls“ versichern, ihnen „Verständnis“ entgegenbringen und bei Unfällen wie Straftaten „mildernde Umstände“ einräumen.

Viele großartige Forscher und Erfinder waren körperlich behindert. Oft zeichnen sich körperlich oder geistig behinderte Menschen durch besondere musische Leistungen aus oder ragen durch ihr soziales Engagement aus der Masse heraus. In Einzelfällen kompensieren Menschen körperliche Defekte durch strategische Größe (Napoleon I, Prinz Eugen), bisweilen auch beispiellose Brutalität.

Und noch ein Phänomen sollte uns zu denken geben: Selbst brutalste Anwendung von Gewalt wird von der Masse geduldet, ja sogar gefeiert („Heldenmythos“), wenn es der Masse hilft, also in den Zeitgeist paßt.

Viele feierten die Kriminellen von Hoyerswerda, klatschten und sahen tatenlos zu. Mohammed ließ – unter dem Jubel von 30.000 – über 660 Christen in Medina öffentlich hinrichten, weil sie sich weigerten, zum Islam überzutreten. Denken Sie auch an öffentliche Auspeitschungen und Hinrichtungen.

Denken Sie an die Sympathie gewisser Massen – bisweilen sogar sog. Intellektueller (z.B. Sartre) – für die brutalen Gewaltakte der IRA und RAF, aber auch den Jubel der Massen im römischen Kolosseum (Christenverfolgung), die Euphorie, mit der Kreuzzüge begleitet wurden und die schaurige Antwort auf die Frage: „Wollt Ihr den totalen Krieg?“ Nicht viel anders sind auch Stier-, Hahnen-, Bären- und Hundekämpfe zu bewerten.

Wenn die Anwendung von Gewalt den Konsens der Masse trifft, mutiert sie zu Heldentum, wird glorifiziert und gefeiert.
Vorsicht: Innerhalb ihrer (kleinen) Masse gelten auch die Attentäter von Hoyerswerda, Mölln und Solingen als Helden!

Jedes Ereignis – nennen wir es „break“ (abrupter „Bruch“) – wirkt auf unsere Psyche. Sind derartige „breaks“ einschneidender negativer Natur und können sie nicht unmittelbar abgefedert werden – z.B. weil sie besonders schmerzhaft sind oder geistig nicht verstanden oder seelisch nicht ausgelebt werden können –, hinterlassen sie mehr oder weniger starke Narben. Anhaltende, also dauerhafte „breaks“ werden zu „Animationen“ und nisten sich als nicht-kompensable Erlebnisse in unserem Seelenleben ein. Positive breaks und Animationen stärken unser
Selbstwertgefühl, bilden also quasi eine „Armierung unseres Seelengerüstes“, während negative breaks und Animationen zwar nach und nach ins Unterbewußtsein abgeschoben, also verdrängt werden, niemals jedoch aus
unserem „Lebensinhalt“ verschwinden. Mit derartigen „Engrammen“ (= „Einkerbungen“) befassen wir uns – sofern sie negativ sind – höchst ungern, da die Erinnerung immer wieder schmerzt. Sie belasten aber sowohl unsere eigene Psyche, als auch das Verhältnis zu unserer Umwelt.

Erfährt nun ein junger Mensch, vielleicht sogar ein Kind oder gar ein Baby derartige „Einkerbungen“, so erwachsen daraus Störungen unterschiedlichster Art, die sich entweder „nach innen“, also auf den Menschen selbst richten oder zu einem Mangel an Vertrauensfähigkeit seiner Umwelt gegenüber führen. Derartige breaks/Animationen („b/a“) sind dann im weiteren Leben die Auslöser für ein kraftvolles, positives und freudvolles Lebensgefühl, sofern die dahinterstehenden „Einkerbungen“ und „Beseelungen“ eben positiver, bestärkender Natur sind. Sie führen zu einer grundsätzlich lebensbejahenden Einstellung.

Mit den negativen breaks/Animationen („b/a“) befassen wir uns leider zumeist erst, wenn massive Störungen in unserer Beziehung zu uns selbst oder im Umgang mit unserer beruflichen oder privaten Umwelt auftreten. Da viele dieser „b/a“ mitunter Jahre und Jahrzehnte „verschüttet“ in uns schlummern, besteht die mühevolle Arbeit von Psychologen und Psychotherapeuten darin, diese „b/a“ wieder zu „entdecken“, also offenzulegen. Da wir/die Gesellschaft derartiger Störungen bei unseren Mitmenschen zumeist erst beim Auftreten massiver Verhaltensmuster gewahr werden, stehen wir menschlichen Tragödien und „Übersprungreaktionen“ oftmals völlig verständnis- und hilflos gegenüber.

So sind sich psychologisch geschulte Ärzte (und Polizisten) darüber klar, daß der weit überwiegende Anteil von Erkrankungen und (Verkehrs-)Unfällen Arten einer „Gewaltanwendung nach innen“ sind. Anders ausgedrückt: Alte Narben und seelische Wunden sind – natürlich zur Unzeit – plötzlich aufgebrochen und der davon betroffene Mensch begeht Fehlhandlungen, derer er sich selbst zumeist gar nicht klar ist.

Dieser Gewalt nach innen steht die „aggressive“ (= nach außen gerichtete) Gewalt gegenüber. Hier richtet sich das destruktive Moment nicht gegen den eigenen Körper, den eigenen Geist und die eigene Seele, vielmehr begeht der Mensch plötzlich Straftaten und zeigt Verhaltensmuster, die dem Bild, was seine Umwelt bislang von ihm hatte,
völlig zu widersprechen scheint.

Gewalt ist der aggressive, Flucht der ingressive Versuch, Lösungen für Probleme zu finden. Je größer das Problem, je schwerwiegender also die Belastung für die Seele ist, desto „bereitwilliger“ werden wir in der Wahl unserer Mittel, und umso zerstörerischer handeln wir gegenüber anderen (= aggressiv) oder gegenüber uns selbst (= ingressiv).

Wir sehen also, daß Gewalt und deren Äußerungsformen zumeist ein äußerst kompliziertes Geflecht von dahinterstehenden Motiven darstellt.

Schon aus diesem Grunde ist die singuläre Auseinandersetzung mit den Symptomen von Gewalt (Kriminalität, Ausländerhaß, etc.) und Publicity-süchtige „Talk-Shows“ im Fernsehen ausgesprochen dümmlich und höchst kontraproduktiv.

Es gibt nämlich kaum ein Argument, dem nicht ein mindestens ebenso schwerwiegendes Argument entgegengesetzt werden könnte.

Es nützt auch nichts, wenn wir unter einem hohen Anspruch an „soziale Gerechtigkeit“ vor Gerichten und im Namen der Rechtspflege mit Hilfe ellenlanger Gutachten (und Gegen-Gutachten) mühsam die Hintergründe der
Taten von Hoyerswerda bis Solingen aufzurollen versuchen, wir jedoch an den dahinterstehenden und tatsächlich ausschlaggebenden Ursachen nichts ändern.

Gewalt ist immer von mehr oder weniger großen (seelischen) Verlust-, (körperlichen) Schmerz- oder (geistigen) Versagensängsten bestimmt – mitunter auch aus einer komplexen Vermengung vieler derartiger Ängste. Diese „bursts“ (Ausbrüche) ernsthaft verhindern zu wollen, bedeutet, für die Zukunft andersartige Ursachen zu legen, die Qualität der Erziehung und – gerade in Deutschland – unsere Einstellung zum „Phänomen Kind“ endlich ernsthaft zu hinterfragen. Nachgerade ist die Anwendung von oder eben der Verzicht auf Gewalt eine Frage der (geistigen) Bildung, des eigenen Horizontes und der emotionalen sowie der sozialen Kompetenz.

Wenn Kinderbanden in Brasilien oder Jugendbanden in Kenia Ausländer überfallen und ausrauben, steht dahinter oftmals der tatsächliche Kampf ums Überleben. Wenn westdeutsche Jugendliche den Abbau von Sozialgesetzen, dessen Notwendigkeit den politisch Verantwortlichen längst klar war – den sie jedoch aus populistischen Gründen nur feige verdrängten –, nunmehr den Asylanten und (ganz bestimmten) Ausländern in die Schuhe schieben zu müssen glauben, liegen einem scheinbaren Phänomen (der Vernichtung eines Menschen) in Wahrheit völlig andere Beweggründe und Ursachen zugrunde.

In Wirklichkeit resultieren derart erschreckende Momente der Gewaltanwendung aus einem fürchterlichen Desinteresse einer übersättigten Gesellschaft, einer erschreckend kinderfeindlichen Umwelt in Deutschland, dem unheilvollen Blendwerk unserer Kirchen, dem Prestige-geilen Egoismus breiter Bevölkerungsschichten, der politischen Dumpfheit und Trägheit der Bevölkerung und dem zunehmenden Fehlen echter Vorbilder, an denen sich Kinder und Jugendliche orientieren, mit deren Hilfe sie sich Ziele setzen könnten.

Lassen Sie mich diese zugegebenermaßen etwas pauschal klingende Schelte erläutern: Der völlig über-zogene „Gleichberechtigungswahn“, die hauptsächlich ökonomisch orientierte Bereicherungsmentalität und die mit einem zunehmenden Desinteresse an ihrer Umwelt einhergehende Vereinsamung der Menschen (gerade in hochindustrialisierten Ländern) unterbindet immer mehr die notwendige Kommunikation zwischen Eltern und
Kindern. Solange die Noten stimmen, kann die „Erziehung“ nicht so falsch sein – meinen die selbstzufriedenen Eltern. Die regelmäßige Anwesenheit der Eltern ist, wenn sie sich in gemeinsamem Fernsehen erschöpft, ebenso unsinnig, wie die hilflosen Versuche des ständig absenten Vaters, der seinen Kindern zu erklären versucht, daß er doch alles „nur für die Familie“ tue.

Welche Eltern fragen denn schon ihre Kinder, wann (und ob) es diesen Spaß mache, daß man gemeinsam etwas unternimmt? Und weiters: was ihre Vorschläge seien?
In welcher Familie haben denn schon die Kinder gleiches Mitbestimmungsrecht wie die Erwachsenen?
Welche Eltern anerkennen denn die Schulleistungen ihrer Kinder als dem Beruf der Eltern gleichwertig entsprechend?

Stattdessen müssen Kinder sehr rasch erkennen, daß die physisch Stärkeren in der Familie auch das Sagen haben und die Gestaltung des Familienlebens von den Erwachsenen (zumeist den Vätern – sofern vorhanden) dominiert wird. Familienidylle besteht zumeist darin, daß die Kinder lernen, sich dem Diktat der Eltern unterzuordnen.

Wer dies nicht wahrhaben will, der möge sich eindeutige Untersuchungen zu diesem Thema einmal vornehmen: Von 15.000 befragten Kindern zwischen 5 und 14 Jahren äußerten sich gerade 4% aller Kinder „rundum zufrieden“ mit ihren Eltern.

Die den Kindern – nachgerade den eigenen – verabreichten negativen „b/a“ werden auch von den Eltern tunlichst verdrängt – in der Hoffnung, daß „es schon nicht so schlimm“ sei. Noch immer schwören viele Eltern darauf, daß „eine Ohrfeige oder ein kleiner Klaps auf den Hintern schon nicht schaden“ könne.

Von den übrigen Formen der Gewaltanwendung – Drohungen, Liebes- und Essensentzug, Miß- und Nichtbeachtung, Befehlen (ohne Erklärungen) u.v.m. – wird erst gar nicht gesprochen. Wie viele Eltern haben es
selten oder sogar niemals für nötig befunden, sich für falsche Reaktionen bei ihren Kindern zu entschuldigen?!

Kinder werden mit einer schnell wachsenden Befähigung geboren, Verstand und Gefühl („Kopf“ und „Bauch“) miteinander Zwiesprache halten zu lassen. Dieser „innere Monolog“, mit Hilfe dessen das Kind frei und unglaublich schnell zu lernen vermag, aber auch ganz genau realisiert, was falsch und richtig ist, wird im Rahmen der „Erziehung“ immer mehr unterbunden. Es ist, als ob man „Filter“ zwischen „Kopf“ und „Bauch“ schiebt. Derartige Filter – wir nennen sie „Bannbotschaften“ – sind zum Beispiel:

  • Das tut man nicht (vor allem als Mädchen/Frau)
  • Das schaffst Du nicht!
  • Das geht nicht!
  • Jungen weinen nicht!
  • Warte nur, was passiert, wenn Papi nach Hause kommt!
  • Dazu bist Du noch zu klein!
  • Du Versager!

Jede dieser „Bannbotschaften“ manifestiert in dem kleinen Menschlein die Gewißheit, daß es unfähig, wertlos und dumm ist – immerhin sind es ja die Ur-Vorbilder (Eltern), deren Aussagen kleine Kinder weder in der Lage noch überhaupt willens sind, kritisch zu hinterfragen bzw. sogar anzuzweifeln. Das kleine Kind wehrt sich – trotz des Schmerzes – geradezu dagegen, bei den Eltern etwas Schlechtes sehen zu wollen, womit es ja seine Ur-Vorbilder (teilweise) zerstören würde. Dieser Verdrängungsmechanismus hält mitunter sogar bis ins hohe Erwachsenenalter an und „übersteht“ sogar kriminelle Verfehlungen der Eltern, z.B. Vergewaltigungen von Töchtern durch Väter!

„Du sollst Vater und Mutter ehren!“ Dieser Spruch – Gebote in Bibel, Koran und Talmud – wird damit zum absoluten Freifahrtschein für jedwedes Handeln der Eltern.

Selbst wenn im Laufe der Zeit das (geistige) Bewußtsein reift, daß auch die Eltern nicht alles fehlerlos und richtig machen, ist die unheilvolle „Saat“ dieser Bannbotschaften längst aufgegangen.

Und noch ein weiterer Aspekt: Der gerade in einer hochzivilisierten und übertechnisierten Umwelt immer mehr zunehmende Konkurrenzdruck und die Konzentration auf geistige und wirtschaftliche Parameter – zu Lasten der Gefühlswelt, des Seelenlebens und der zwischenmenschlichen Kommunikation – läßt dem Einzelnen immer weniger Zeit, sich auf sich selbst zu besinnen. So beschäftigt wir mit der Hege und Pflege unseres Körpers sind (s.h. Bodybuilding, Fitneß und Mode) und so ängstlich wir körperlichen Unzulänglichkeiten gegenüberstehen, so gnadenlos vernachlässigen wir unsere Seelen.

Dazu kommt eine sich geradezu überschlagende Flut von Informationen, die – oftmals gezielt manipulierend – nur fragmentarisch aufgenommen wird, ohne daß diese „Sternschnuppen“ komplexer Sachverhalte überhaupt hinterfragt werden. Information wird mit Wissen verwechselt!

Immer noch völlig unterschätzt wird, das fatale Wirken von „Versagensängsten“, die in Minderwertigkeitsgefühlen und á la loungue -komplexen münden. Diesen „Mikos“ versucht der Mensch buchstäblich instinktiv entgegenzuwirken. Fehlt ihm dazu das Wissen oder (scheinbar) die Gelegenheit – wohinter sehr oft „Verbote“ aus Kindheit und Elternhaus stehen (z.B. „Schuster, bleib‘ bei deinem Leisten“) – bricht sich dieser  Minderwertigkeitskomplex anderweitig Bahn, mitunter eben in Form von Gewalt. Wer sich dann alleine zu schwach oder unsicher fühlt, sucht nach dem Kollektiv. Der „Chorgeist“ einer Bande, kriminellen Vereinigung, Sekte o.ä. stärkt auch Feiglinge, schafft (fehlende eigene) Überzeugungen und übertönt ethische Bedenken, die man als Einzelner noch hat. Dieses Phänomen macht dann aus Versagern und profillosen Mitläufern plötzlich „Helden“ und „wichtige“ Figuren – denken Sie z.B. an Hooligans und Rocker, aber auch Salafisten, Selbstmordattentäter, IS-
oder Boko Haram-Anhänger u.v.m. Aber auch Partei- und Politikerkarrieren bieten hierfür Chancen.

Dabei werden dann Barrieren durchbrochen, die ansonsten völlig tabu sind. Der gequälten Seele gereicht ein Dammbruch zur Befreiung – leider oftmals mit der Folge einer neuen Verletzung, die dann (z.B. ein Tötungsdelikt) als lebenslange Schuld mitgeschleppt wird.

Die eingangs gefundene Definition muß also noch ergänzt werden:
Gewalt resultiert in letzter Konsequenz aus einer seelischen Hilflosigkeit, dem Schrei nach Anerkennung und dem Fehlen von Wissen. Umgekehrt: Je höher der Stand (verarbeiteten) Wissens ist und je gesünder die dazugehörige Seele ist, desto weniger entsteht Gewalt.

Wenn dieser Artikel Sie nun etwas ratlos herumstehen läßt, so schadet dies gar nichts.

Ich wollte mir keinesfalls anmaßen, dem immer schneller wachsenden Maß an Gewalt ein „Zaubermittel“ entgegenhalten zu können. Es ging mir einzig und allein darum, daß Phänomen Gewalt als das zu entlarven, was
es ursächlich ist: Die Unfähigkeit der Gesellschaft, ihre eigene Schuld an den Ursachen der uns umgebenden Gewalt einmal ehrlich zu hinterfragen und anzusehen.

Erst wenn wir unser gesamtes Tun und Handeln, unser Denken und Fühlen als zueinander gehörig betrachten, empfinden und zulassen – ohne dies gleich immer zu bewerten – gelangen wir bei/in uns selbst zu einem
„Gleichklang von Körper, Geist und Seele“. Erst dann stimmt der „innere Monolog“, der uns ganz genau – fernab jeder Bannbotschaft (!) – sagt, was richtig, sauber und gut ist. Erst aus diesem geklärten Ich-Bewußtsein („Selbstverständnis“) kann ein „Du-Bewußtsein“ und eine „Du-Verantwortung“* erwachsen, ein Verständnis für die Umwelt und unsere Mitmenschen resultieren und – besonders wichtig für Eltern und Lehrer – ein Erziehungsauftrag tatsächlich erfüllt werden.

Wer wirkliche Macht – im Sinne überzeugender echter Autorität – hat, der muß keine Gewalt anwenden.

Hans-Wolff Graf (1993/2014)

* Die Verantwortungspyramide und die Bewußtseinspyramide, jeweils Anthropos e.V. – Für die Kinder dieser Welt, München