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Lassen Sie Ihr Kind rechtzeitig los

... sonst kann es zu einem Desaster kommen

Interview von Natalija Mostova (NM) (Magazin ‚MICTO №7‘, Ukraine, Mai 2017) mit Hans-Wolff Graf (HWG)

Erziehung ist keine Dressur: Eine überbordende ‚Liebe‘ der Eltern zu ihren Kindern kann beide Generationen verkrüppeln. Wo sollte man Grenzen setzen und wissen, wann man die eigenen Zöglinge loslassen sollte? Warum werden Kinder krank – sind das Folgen psychologischer Probleme im Umfeld von Vater und Mutter? Wie können Eltern als Partner kooperieren? Warum sind die ersten vier Jahre die prägendsten für das restliche Leben eines Menschen?

Über eine bewußte Elternschaft und „Rezepte“ zur Erziehung glücklicher Kinder erzählte der bekannte deutsche Psychologe, Pädagoge und Wirtschaftsberater Hans-Wolff Graf, der vor kurzem eine Reihe von Vorträgen und Trainings für Eltern, Lehrer, Erzieher und Jugendliche in Iwano-Frankiwsk und Werchowyna hielt [ein Vortrag/Workshop wurde sogar von Beamten gewünscht, Anm. d. Red.].

NM: Was sind die häufigsten Fehler von Eltern bei der Erziehung ihres Kindes?

HWG: In jedem von uns lebt ein kleines inneres Kind, das wir auch als Erwachsene unser ganzes Leben lang mit uns tragen. Leider inkarniert dieses Kind nicht nur positive Erinnerungen, sondern auch einen ganzen Blumenstrauß von unbewußten negativen Programmen, den sog. Bannbotschaften und den daraus resultierenden fiktiven Ängsten, die uns schon in der frühen Kindheit „geschenkt“ worden sind. 95% all unserer Ängste sind fiktiv, also nur in unserer Erwartung lebendig.

Diesen Angstmüll loszuwerden ist aus folgenden Gründen schwierig: Erstens saugten wir diese Überzeugungen und Weltanschauungen unbewußt auf, als wir noch Kleinkinder waren, unser kritisches Denken also noch gar nicht entwickelt war. Zweitens, fühlen wir uns schuldig, falls wir diese zerstörende Last versuchen loszuwerden, da das wie ein Verrat an den Eltern empfunden wird.

Somit kommt es dazu, daß wir alle unsere Bannbotschaften und Ängste unseren Kindern schon ab den ersten Tagen ihres Lebens anzuerziehen bzw. aufzudrängen versuchen. Dabei sind wir sicher, daß sie mit diesen Überzeugungen glücklicher werden, als wir es selber geschafft haben. Absoluter Unsinn!

Oft machen Eltern ihr Kind zu einem Teil von sich. Dies betrifft vor allem Mütter, denn Männer lassen leichter los. Häufig findet diese „Überbemutterung“ bzw. „Überbevaterung“ nicht mit der Mündigkeit des Kindes ihr Ende, sondern wird über das ganze Leben dieses Kindes gepflegt. Und das ist ein Desaster, denn es ist sehr wichtig, rechtzeitig loszulassen.

Sie werden es mir nicht glauben, aber viele meine Mandanten sind bis heute nicht in der Lage, ihre Mütter und Väter inklusive des ganzen Katalogs an Bahnbotschaften loszulassen, obwohl die Eltern vielleicht schon lange tot sind.

Eine 65-jährige Frau, zweifache Doktorin, hatte Angst, von ihrer Mutter beschimpft zu werden, obwohl diese schon lange verstorben war. Nach einer zweijährigen Therapie konnten wir diesen erdrückenden Prozeß beenden. Wir gingen zum Grab ihrer Mutter und verabschiedeten uns emotional. Meine Mandantin lebte danach noch acht Jahre und gestand mir vor ihrem Tod, daß diese die glücklichsten ihres Lebens waren.

NM: Warum ist es so wichtig, Kinder rechtzeitig loszulassen?

HWG: Da es unmenschlich ist, es nicht zu tun: Anstatt den kleinen Menschen zu einem innerlich freien und selbständigen Menschen werden zu lassen und ihm zu helfen und beizubringen, die Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen, machen wir ihn zu unserem Besitz, den wir dann glauben, permanent vor der ganzen Welt „beschützen“ zu müssen. Und die Mutter ist dann auch noch stolz darauf, daß ihre erwachsenen Kinder sich immer noch an ihrem Rock festhalten. Eltern, wacht auf! Es ist doch widernatürlich und ungerecht! Man kann dem Kind das Angeln nicht beibringen, indem man an seiner Stelle fischt. Man sollte dem Kind besser eine Angel in die Hand geben und zeigen, wie man mit ihr zielgerichtet umgeht.

NM: Welches Alter ist am wichtigsten in der psychologischen Entwicklung des Kindes?

HWG: Erst mit ungefähr drei bis vier Jahren entdeckt das Kind zum ersten Mal sein eigenes „Ich“. Davor sagt die kleine Nadja, wenn sie über sich erzählen möchte nicht „Ich möchte“ sondern „Nadja möchte“. Denn dem Kind sind die Bedeutung, die Grenzen und der Inhalt des Begriffs „Ich“ noch nicht bewußt.

In den ersten vier Jahren sind die kognitiven Fähigkeiten noch nicht ausreichend entwickelt, um das kritische und abstrakte Denken zu gewährleisten. In diesem Zeitraum macht das Kind seinen Eltern alles nach und saugt wie ein Schwamm die Geschehnisse seiner Umwelt auf. Deshalb sind diese vier Jahre nicht nur sehr wichtig, sondern können – unter der Voraussetzung des verantwortungslosen Umgangs mit der Erziehung vonseiten der Eltern – gefährlich werden.

In dieser Zeit entscheidet sich, ob das Kind zu einem Feigling oder einer mutigen und offenen Persönlichkeit wird. Die Erfahrungen, die in den ersten vier Jahren eingeprägt werden, können zu einem Trauma für das zukünftige Leben werden. Es können, unter anderem, schmerzhafte Bannbotschaften sein, die das Kind ins Erwachsenleben mitschleppt. Denn fast alle Ängste, Komplexe und Bannbotschaften, die wir im Rucksack unseres Lebens tragen, wurden uns schon in der frühen Kindheit und meist von den Eltern eingeimpft.

Das bedeutet nicht, daß man einem Kind gleich nach der Geburt alles an Wissen, was es für das weitere Leben nötig haben könnte, in den Kopf reinstopfen muß. In dieser Zeit sollte das Kind lernen, daß es sich für alles interessieren, alles ausprobieren und vor allem fragen darf. Am wichtigsten ist dabei, dem Kind zu verstehen zu geben, daß neue Schritte zu wagen und Fehler zu machen nichts Schlimmes sind.

NM: Welches Bestrafungssystem für Kinder halten Sie für das effektivste?

HWG: Falls das Kind sich an die mit den Eltern getroffene Vereinbarung nicht gehalten hat, ist eine Bestrafung eine richtige Entscheidung. Nur darf sie nicht zu einer bösen Rache der Eltern werden, sonst verliert sie jeglichen pädagogischen Sinn. Und die Form der Bestrafung kann ruhig mit dem Kind ausdiskutiert werden – lassen Sie eine für sich aussuchen.

Ich praktizierte es immer wieder mit meinem Sohn Christian. Und Sie werden es nicht glauben, aber er suchte sich Strafen aus, die strenger waren als meine eigenen möglichen Vorschläge: Wenn das Kind von sich aus einen Vorschlag macht, spricht das für das Verständnis seiner Schuld. Dementsprechend wird der Effekt nicht lange auf sich warten lassen. Es lernt, seine Grenzen auszuloten und auch zu akzeptieren, aber auch Vereinbartes einzuhalten.

Es war aber auch wichtig, daß Christian für mich und meine Frau auch Strafen aussuchen durfte, wenn wir vor ihm schuldig waren. Einmal habe ich zum Beispiel vergessen, ihm Bescheid zu geben, daß ich ihn von seiner Nachmittagsaktivität nicht abholen und zur Geburtstagsparty seines besten Freundes bringen kann. Infolge dessen wurde eine zusätzliche Spielstunde am Samstagabend vereinbart.

Eltern und Kinder sollten Partner werden, dann werden Kinder zu freien Persönlichkeiten heranwachsen, die lernen, Verantwortung für ihr eigenes Leben zu übernehmen. Lebenskraft und Lebensfreude kann das Kind nur dann entwickeln, wenn es Selbstvertrauen spürt.

Eine kleine Ergänzung: Es ist wichtig, daß beide Elternteile in der Erziehung zusammenhalten und sich einig sind, sonst lernt das Kind, diese Widersprüchlichkeiten zum Eigenvorteil manipulativ einzusetzen.

NM: Zu welchen Konsequenzen können Handgreiflichkeiten als Bestrafungsmethode führen?

HWG: Ein Kind vergißt eine ungerechte Tat nie. Und solch eine ist die Handgreiflichkeit auf jeden Fall, denn Vater oder Mutter sind viel stärker als das Kind. Eltern, die physische Kraft einsetzen – auch wenn es sich nur um einen kaum spürbaren Klaps handelt – sind entweder zu dumm oder zu faul, eine intelligente, pädagogisch wertvollere Alternative zu suchen. Und ihre Kinder werden ihr Leben lang eine unterbewußte Aggression gegenüber dem Vater oder der Mutter, die sie geschlagen haben, spüren.

Mehr noch: Solche Kinder können in ihrem weiteren Leben unterbewußt entweder Menschen anziehen, die sie mißachten und niedermachen, oder Situationen, in denen sie sich ungerecht behandelt fühlen. Denn diese Beziehungsmodelle sind sie dann seit der frühesten Kindheit ‚gewohnt‘. Gewalt wird zu einem Beziehungsinhalt.

Übrigens, in solchen autoritären Familien sind berühmte Diktatoren aufgewachsen: Hitler, Stalin, Mao Zedong….

NM: Vor kurzem gab es in der Ukraine eine Welle von Kinderselbstmorden; hierzu führte die Teilnahme an einem in den sozialen Netzwerken popularisierten Todesspiel. Warum werden Kinder zum Opfer solcher Bewegungen?

HWG: Es handelt sich um ein Bedürfnis des Kindes, sich bemerkbar zu machen, dazuzugehören. So ein Kind hat weder eine Beziehung zu sich, noch zu seiner Umwelt. Um Aufmerksamkeit, Wärme, Zuwendung und Anerkennung zu bekommen, entscheidet sich das Kind bzw. der Jugendliche für solche Spiele. In der Regel mangelt es solchen Jugendlichen an Liebe. Und sie geraten unter den Einfluß derer, die ihnen die Möglichkeit bieten, endlich gesehen und gehört zu werden, auch wenn es sich dabei um völlig widernatürliche Inhalte handelt. Das ist eine Art von Hilfeschrei.

Als eine mildere Ausprägung dieses Phänomens können das Färben der Haare in Regenbogenfarben, ein Irokesenschnitt, Piercings über den ganzen Körper verteilt u.v.m. gesehen werden. Es handelt sich dabei um eine unterbewußte Botschaft an die Welt: „Auch wenn ich schrecklich aussehe, mich gibt es! Ich möchte endlich gesehen, wahrgenommen werden!

NM: Die Psychosomatik als wissenschaftliche Richtung behauptet, daß Krankheiten von Kindern eine Spiegelung psychologischer Probleme ihrer Eltern seien, zumindest bis ins Jugendalter hinein. Stimmen Sie mit dieser Theorie überein?

HWG: Keine Frage. Übrigens, betrifft dies auch die Erwachsenen. Jede Krankheit entsteht als Folge einer Schwächung des Immunsystems, wenn ein Mensch also nicht in der Lage ist, mit einem negativen psychischen Zustand oder mit seinen eigenen Emotionen klar zu kommen. Eine Krankheit ist eine Botschaft der Seele durch den Körper. Deshalb: Wenn Kinder krank werden, sollten Eltern sich auch mit sich selber und der Beziehung zueinander beschäftigen.

NM: Im Laufe der Woche hatten Sie einige Treffen mit Mitarbeitern von Bildungsinstitutionen: Leitern, Lehrern, Methodikern, usw. Was ist laut Ihrer Beobachtungen das Hauptproblem der Pädagogen?

HWG: An erster Stelle ein viel zu geringer Lohn – Lehrer sollten in einem Staat am meisten verdienen. Außerdem sollten sie sich nicht weiterhin als Lakaien des Systems sehen, sondern Pädagogen sein. Denn das Wort „Pädagoge“ kommt aus dem Ionischen und wird als „Wegbegleiter, Spielgefährte“ übersetzt…

Jeder Pädagoge ist ein Lehrer, aber nicht jeder Lehrer ist ein Pädagoge, der dem Kind hilft, sein Potential zu entfalten und seinen Interessen und Neigungen nachzugehen. Es ist wichtig zu verstehen, daß Kinder innerlich frei aufwachsen sollten. Zum Erfolg kann solche Arbeit jedoch nur dann werden, wenn parallel mit Kindern, Eltern und Pädagogen gearbeitet wird.

NM: Aber zukünftigen Lehrern wird ein solches Verständnis nicht an der Uni beigebracht…

HWG: Es ist auch nicht zu empfehlen, sich nur mit an der Uni beigebrachten Inhalten zufrieden zu geben; die Selbstbildung sollte nicht in Vergessenheit geraten. Falls ein Lehrer keine Berufung in sich spürt, sollte er aus dem Beruf aussteigen.

Lehrer und Erzieher als Informationsvermittler, wie wir sie heute kennen, werden in zwanzig Jahren nicht mehr gebraucht; denn jeder hat heute einen Zugang zu einer riesigen Datenmenge, einem so großen Wissen wie nie zuvor.

Aber ein Pädagoge wird immer und in jeder Gesellschaftsform gefragt sein, trotz des Ausbleibens der heutigen Form von Schule. Stattdessen wird es Schulen geben, die einen individuellen Zugang zu Wissen/Bildung in den Vordergrund treten lassen wird.

Wenn der Staat sich am alten System festzuklammern versucht und Bildung als ein Organ absoluter Kontrolle versteht, wird er damit scheitern. Wichtig ist eine Führung nach Kompetenz, Verständnis und Vorbild, keine Befehlszuweisung von „oben nach unten“.

NM: Ich danke Ihnen für das Gespräch.

Autorin: Natalija Mostova

Die Erstveröffentlichung dieses Interviews erfolgte im ukrainischen Magazin „MICTO №7“,  Ausgabe: Mai 2017