Du betrachtest gerade Psychologie des Schmerzes

Psychologie des Schmerzes

von Hans-Wolff Graf

 

Wer kennt sie nicht: Schluckbeschwerden und Halsschmerzen, verstauchte Hände und Füße, Zahn- oder Ohrenschmerzen? Schmerzen begleiten uns ein Leben lang – von den Geburtsschmerzen bis zum Tode. Wir genießen ihre Absenz und fürchten sie, wenn sie auftreten. Schon der Gedanke an sie berührt uns unangenehm; die „Vorsorge-„ Pharma-industrie und ihre Werbestrategien verdienen prächtig an unserer Angst.

Vielleicht helfen die folgenden Gedanken, das „Feindbild“ Schmerz ein wenig zu relativieren, die Angst davor zu verlieren und ihn als das anzunehmen, was er eigentlich ist: Ein lebenslanger treuer Begleiter.

Schmerzen als Warnsignale

Gemeinhin wird mit Schmerz ein physischer Defekt beschrieben, der uns unterschiedlich intensiv am wünschenswert normalen Gebrauch unserer Glieder und Organe hindert. Wir empfinden einen Schmerz als Beeinträchtigung unserer körperlichen Unversehrtheit und suchen, ihm, soweit es irgend geht, auszuweichen. Taucht er dennoch – unvermutet und überraschend – auf, so schrillen bei uns alle Alarmglocken, und je nach Kenntnis um die Hintergründe des Schmerzes, Gewohnheit, den zeitlichen Umständen und Situationen greifen wir dann zu mehr oder weniger wirkungsvollen Hausmitteln, Medikamenten, Tees und Salben oder statten dem Arzt oder gleich der Klinik einen Besuch ab.

In jedem Fall ist unser Bestreben, diesen spezifischen Schmerz so schnell wie irgend möglich wieder loszuwerden. Doch was sind Schmerzen eigentlich natürlicherweise?

Schmerzen signalisieren uns einen Defekt. Sie sind ein Warnsignal unseres unglaublich komplizierten Körpers und all der biologischen, bioenergetischen und biochemischen Prozesse, die wir – zumeist ohne Kenntnis von deren Zusammenspiel – schlicht als ‚Leben‘ bezeichnen.

Dabei sind diese Warnsignale ein Schutzmechanismus, wie wir es im täglichen Leben von Rauch- und Feuermeldern, Signalhörnern und Sirenen, Ampeln und Blinklichtern kennen und durchaus zu schätzen wissen. Die Alarmsignale unsere Körpers hingegen empfinden wir als Bedrohung, Einschränkung und nicht selten sogar als persönlichen Defekt, den es zu verschleiern und auf schnellstem Wege abzustellen gilt.

Wäre es da nicht weitaus klüger, sich zu aller erst beim noch so gut funktionierenden eigenen Alarmsystem zu bedanken und sich darüber zu freuen, daß das Warnsignal uns rechtzeitig auf einen bestehenden Mangel – die Überlastung eines Gliedes, die Zufuhr von zuviel Wärme oder Kälte, eine Vergiftung oder Ähnliches – hingewiesen hat? Nichts wäre für unser Wohlbefinden oder sogar Leben gefährlicher, als wenn dieses Warnsystem außer Kraft gesetzt wäre, nicht mehr funktionierte.

Nur aufgrund dieses Schmerzes werden wir uns der Überlastung oder drohenden Gefahr überhaupt bewußt und haben die Möglichkeit, den signalisierten Defekt zu beheben, also die drohende Gefahr, die uns durch den Schmerz bewußt gemacht wurde, abzuwenden, bzw. ihr sinnvoll zu begegnen oder vorzubeugen – angstfrei und souverän ruhig.

Der Schmerz, Dein Freund und Helfer

Wenn wir uns dieser Zusammenhänge bewußt sind, könnten wir an jeden auftretenden Schmerz weniger ängstlich und mit weniger spontaner Abwehr herangehen. Wir könnten uns (nach einem kurzen „Dankeschön“ an unseren funktionierenden Körper) auf die Suche nach den Ursachen des Schmerzes begeben – ohne Hektik und Panik, getragen von hohem Interesse an unserer eigenen Physis – und den durch den Schmerz signalisierten Mangel beheben. Darüber hinaus können wir lernen, das Auftreten dieses spezifischen Schmerzes in Zukunft zu verhindern, indem wir vorsichtiger mit uns selbst umgehen, bestimmte Gefahrenmomente meiden und bewußter unseren Körper vor Überanstrengung und Gefährdung bewahren.

In ängstlicher Panik nach Medikamenten oder gar Alkohol zu greifen, sich innerlich zu verschließen und selber für krank zu erklären, macht uns zum Flüchtling vor einer Realität, die uns der Schmerz – dankenswerterweise und in liebevoller Treue – signalisieren wollte.

Das Internet verzeichnet immer mehr Zugriffe auf „Gesundheits-“ bzw. „Krankheits-“Seiten; hier feiert die Hypochondrie fröhlich Urständ. Was dem einen hilfreiche Informationen zum Umgang mit dem eigenen Körper liefert, ängstigt den anderen massiv; letzterer „beweist“ sich selbst bei jedem Minimaldefekt, daß er, Dutzenden von Krankheitsbildern ausgesetzt, in höchster Gefahr ist – autogene Panikmache! Vernünftiger wäre es, unaufgeregt an jedes Symptom heranzugehen und dies mit einem Arzt seines Vertrauens zu besprechen.

Kurzum: Aus einer veränderten Sichtweise kann resultieren, daß Sie den Schmerz – egal zu welcher Zeit und in welcher Form er auftritt – künftig als guten, treuen Freund betrachten, der Sie auf etwas aufmerksam macht, das Sie ohne seine hilfreiche Aufsicht überhaupt nicht wahrgenommen hätten. Funktionierte nämlich unser Schmerzempfinden nicht, würden wir weder die Gefährdung durch zuviel (oder wenig) Wärme, noch gefährliche Dämpfe und Gerüche, verdorbene oder giftige Speisen, verstauchte Gliedmaßen und andere Verletzungen oder Krankheiten unseres Körpers überhaupt wahrnehmen.

Insofern können wir unserem natürlichen Schmerzempfinden nur herzlich dankbar dafür sein, daß es noch funktioniert und uns (möglichst) rechtzeitig vor größeren Schäden warnt und bewahrt.

Mein Vorschlag: Gehen Sie mit dem Schmerz, egal in welcher Form er auftritt, eine liebevolle enge Freundschaft ein.

Daß kein psychisch gesunder Mensch Freude an Schmerzen empfindet, muß nicht lange diskutiert werden, aber eine gute Freundschaft zeichnet sich ja gerade dadurch aus, daß man in ihr auch über schwierige und problematische Situationen offen und ehrlich sprechen kann, nichts vertuschen und verheimlichen muß.

Fazit: Nicht jeder Schmerz signalisiert gleich eine Krankheit, einen dauerhaften Defekt oder gar eine Lebensgefahr. Diese Angst vor dem Schmerz löst deshalb bei demjenigen, der sich der unglaublichen Komplexität seines biologischen Konstruktes nicht bewußt ist   – und wer kennt die Funktionen seiner unterschiedlichen Organe sowie deren Zusammenspiel schon wirklich – oftmals unterschwellige Krankheits- und sogar Todesängste aus. Wer sich dieser Zusammenhänge aber bewußt ist, kann seelisch und geistig in Ruhe und Gelassenheit, klug und umsichtig an die Ursachen des Schmerzes und deren Beseitigung herangehen. Hektisch oder gar hypochondrisch mit jedem auftretenden Schmerz umzugehen, ist sicherlich die falsche Methode.

Auch Geist und Seele können unter Schmerzen leiden

Zumeist beziehen wir Schmerzen auf den physischen Bereich, also den Körper und seine Funktionalität.

Aber auch unsere Seele und unser Verstand, also ‚emotio‘ und ‚ratio‘, können unter Schmerzen leiden. Der Verlust eines uns teuren Freundes verursacht seelische Schmerzen, die wir als Trauer wahrnehmen. Wir empfinden seelischen Schmerz, wenn wir uns verletzt, betrogen, verlassen, einsam, unverstanden und hilflos fühlen, traurig sind. Da jedoch der Umgang mit Trauer – ein völlig natürlicher und integraler Bestandteil unseres Lebens – nicht zum Kanon unserer Schulbildung gehört und zumeist auch in den Familien nicht psychologisch zuträglich aufgearbeitet wird, bildet die Angst vor immer wieder auftretenden seelischen Schmerzen eine ständige Belastung, die natürlich immer wieder Bestätigung erfährt, wenn ein uns nahestehender Mensch krank wird, einen Unfall erleidet oder aus dem Leben scheidet. Doch auch der Umgang mit Trauer, einer völlig natürlichen Emotion, derer sich niemand schämen oder sie verheimlichen muß, kann erlernt und damit seines Schreckens enthoben werden. Sich der Natürlichkeit eines Verlustes – und jede Beziehung ist ein Geschenk auf Zeit! – bewußt zu werden, ist die beste Möglichkeit, die tagtäglich durch Sensations- und Schreckensmeldungen genährte Angst zu verlieren und mit einem immer wieder auftretenden Verlust dann ruhiger und gelassener, ohne Hektik und Panik umzugehen.

Nichts ist unendlich – weder unser eigenes Leben und die erfrischende Jugendlichkeit, mit der wir unser Leben beginnen, noch die jedes anderen Menschen, mit dem wir Momente und Zeiten unseres Lebens teilen dürfen.

Auch unsere Seele bedarf, wie ein Organ unserer Physis, der liebevollen und gewissenhaften Betreuung, will verstanden und genährt werden.

Und auch unser Geist, unser Verstand, kennt Momente des Schmerzes, wenn wir z.B. vor einer schier unlösbaren Aufgabe stehen, auftretende Probleme nicht verstehen können, nicht auf Anhieb zu lösen vermögen, bei einer Prüfung zu versagen drohen oder bestimmte Zusammenhänge einfach nicht auf die Reihe bekommen. Dann kommen Versagensängste auf; wir zweifeln an unserer Kompetenz, fühlen uns nicht qualifiziert, dumm, wertlos, unfähig. Wer dann an sich zweifelt, wird zum Opfer eines geistigen Schmerzes. Wer sich jedoch in Kenntnis der Zusammenhänge und in Ruhe daran macht, die Hintergründe des Problems zu sortieren und aufzuarbeiten – z.B. durch Hinzuziehung eines Freundes oder indem er sich der Hilfe eines Fachmanns bedient –, wird feststellen, daß nahezu jedes intellektuelle Problem nicht nur schneller, sondern generell zu lösen ist, wenn man sich von geistigen Ängsten (und den Schmerzen, den diese verursachen), frei macht.

Auch seelische und geistige Schmerzen schränken uns ein, belasten uns und führen uns damit an jeweilige Grenzen. Wie langweilig wäre jedoch ein Leben, in dem alles immer völlig glatt und reibungslos, frei von Behinderungen und Unterbrechungen funktionierte? Wir wären weder veranlaßt, noch gar gezwungen, unsere Neugier und unser Interesse auf Dinge und Zusammenhänge zu richten, die eben nicht auf Anhieb gelingen, uns vor Aufgaben und Probleme stellen, deren Lösung von unserer Bereitschaft abhängen, uns mit Neuem und bislang nicht beschrittenen Wegen zu beschäftigen. Wir würden nichts mehr hinzulernen, denn Fehler und Probleme sind Chancen, neues Wissen zu erwerben.

Fazit: Auch geistige und seelische Schmerzen sind nicht unsere Feinde, sondern der (mehr oder weniger diskrete) Appell an unsere Gefühle und unseren Verstand, uns mit Problemen und Lebenssituationen auseinanderzusetzen, die den Rahmen des Üblichen sprengen, aber völlig natürliche Bereicherungen unseres Lebens darstellen.

Geistige Versagens-, seelische Verlust- und physische Schmerzängste sind integrale Bestandteile unseres Lebens in den geistigen, emotionalen und physischen Winkeln unseres Lebensdreiecks[1]. Sie entsprechen Warntafeln und Leitlinien auf unserem Lebensweg und sind insofern hilfreich und nützlich. Sie stellen eine Bereicherung insofern dar, als wir aus ihrem Auftreten lernen und Erfahrungen sammeln können, die unser Lebensdreieck eben dadurch größer und stärker werden lassen. Der Umgang mit Schmerz (in jeder Form) ist Teil des Programms unserer Entwicklung, unserer Lebenserfahrung und gleichzeitig der Lieferant unserer Lebensenergie – wenn wir mit Interesse und Neugier an jede Erscheinungsform von Schmerz bereit sind, angstfrei heranzugehen.

Wie begegne ich körperlichen, geistigen oder seelischen Schmerzen?

Ganz allgemein: je nachdem, in welchem Winkel Ihres Lebensdreiecks der Schmerz auftritt, finden Sie auf der gegenüberliegenden Ebene die Lösung.

Schritt 1:     Bringen Sie sich zur Ruhe, um Panik zu vermeiden. Atmen Sie dazu ruhig und tief in den Bauch (ohne, wie üblich, in die Brustatmung zu gehen). Bereits nach zwei oder drei tiefen Atemzügen werden Sie die Entspannung spüren.

Schritt 2:     Werden Sie sich klar darüber, ob es sich um einen körperlichen, geistigen oder seelischen Schmerz handelt.

Schritt 3:     Bitten Sie die jeweils nicht vom Schmerz betroffenen Teile Ihres Lebensdreiecks um aktive Hilfe, d.h.: schmerzt Ihr Körper, bitten Sie Ihren Verstand und Ihr Gefühl um Hilfe; „quietscht“ Ihre Seele, dann fragen Sie Ihren Verstand um Rat und gönnen Sie sich physisch etwas Gutes. Kommt Ihr Verstand mit einem anstehenden Problem nicht zurecht, fragen Sie Ihr Gefühl und suchen Sie die physische Nähe, den Dialog mit demjenigen, mit dem Sie das Problem haben und/oder mit klugen Ratgebern, die vielleicht mehr Erfahrung mit Ihrem Problem haben.

So einfach diese Ratschläge klingen, so wirkungsvoll sind sie tatsächlich. Nötig sind nur Disziplin und ein wenig Übung!

[1] Das Lebensdreieck – ein Denkmodell des Autors, das das Zusammenspiel von Körper, Geist und Seele sowie die bestärkenden und reduzierenden Faktoren aufzeigt und eine Grundlage für seine Seminare ist.

Einen Artikel finden Sie unter: http://www.d-perspektive.de/zeitreport-online/psychologie/das-lebens-dreieck-wie-negativer-und-positiver-stress-entsteht-und-wie-man-lernt-damit-umzugehen/